Singen - Lehren       Singing - Teaching

Hallo Frau Lang,

mein Professor sagt, dass ich viel üben muss. Pianisten würden auch 8 bis 10 Stunden täglich üben. So 6 Stunden müssen wohl drin sein. Seit ich das mache, werde ich immer schnell müde, bin häufig erkältet und komme nicht wirklich weiter. Meine Frage an Sie: wieviel muss ein Sänger üben?

Vielen Dank!

K.K.*
*Name geändert



Hallo Frau K.,

ich bin von Haus aus Geigerin und habe in den Semesterferien auch Übephasen mit Tagespensen von bis zu 8 Stunden gehabt. Diese Intensiv-Übe-Phasen dienten dem Repertoire-Studium und der Vorbereitung des folgenden Semesters. Während des Semesters habe ich ca. 4 Stunden täglich geübt und diese Zeit sehr intensiv genutzt.

Beim Singen sieht das, meiner Meinung nach, schon etwas anders aus. Die Muskulatur ist vielleicht, wenn sie gut trainiert und physiologisch richtig benutzt wird, zu längerer „Benutzung“ ausgelegt. Beim Singen sind wir jedoch vom Funktionieren von kleinen Muskeln und Epithelschichten abhängig. Da kann es sein, dass sich die Schleimhaut nicht so schnell erholt. Auch hier gilt, wenn deren Funktionieren auf physiologischer Basis trainiert wird, ist eine Ausdauerleistung möglich. Nur so lassen sich sängerische Höchstleistungen bei langen Partien, wie z.B. der Susanna eines lyrischen Soprans, des Hans Sachs eines Heldenbaritons oder des Titelpaares von Tristan und Isolde des Heldentenors und der hochdramatischen Sopranistin erklären.
Solche Ausdauerleistungen erreicht man durch sukzessiven Aufbau. So wie das kleine Kind lernt zu laufen, diese Tätigkeit mehr oder weniger bewusst in seinen Alltag einbaut, längere Spaziergänge, Wanderungen unternimmt, vielleicht Sport und Leistungssport betreibt und so im Laufe von Jahren der Heranwachsende eine Stamina entwickelt, ist auch bei der Entwicklung des Sängers vor allen Dingen der Zeitfaktor von großer Bedeutung. Der Zeitfaktor in horizontaler Richtung. „Vertikale“ Zeitausnutzung, d.h. stundenlanges Singen-„Üben“ halte ich für wenig zielführend, da man immer mehr in eine Ermüdungsspirale kommt, in der man sich nicht wirklich regenerieren kann.
Dies habe ich in vielen Rückmeldungen von Studierenden und Profi-Sängern bestätigt bekommen. Meiner Meinung nach sollte man eine „Übe-Hygiene“ entwickeln, die über bewusstes Üben von Bewegungsabläufen langsam zum Aufbau von abrufbaren individuell gewünschten Klangqualitäten führt. Wenn der Sänger lernt, nicht müde zu werden beim Finden seines ihm eigenen Singens, wird er auch im Laufe der Zeit in der Lage sein,  immer längere Phasen singen zu können und so die vertikale Zeitachse anders bedienen können.
Ich möchte hier auf den Unterschied zwischen aktivem Singen-Üben und Lernen betonen. Wenn die Lernzeit, die deutlich länger als die reine Übezeit sein dürfte, optimal und auf verschiedenen Ebenen genutzt wird, dürfte sich dies auch sehr positiv auf die Übezeit und auf den Fortschritt des Übe-Lern-Prozesses auswirken. So kann man am Instrument, vorzugsweise dem Klavier, Werke einstudieren (ohne zu singen). Man kann sein Auswendig-Lernen verschieden gestalten: z.B. Text sprechen, Text stumm memorieren, Text-Memorieren mit Bewegung verbinden, Text-Memorieren mit Bildern verbinden, Worte und Melodie mit verschiedenen Ankermethoden kombinieren. Man kann eigene Übe-Aufnahmen anfertigen, die man sich (auch „nebenbei“) anhört, wann immer sich eine Chance bietet. Hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Jeder sollte für sich seine eigenen Wege suchen und finden lernen.
Wiederholungen beim Üben und Lernen sollen sinnvoll, abwechslungsreich sein und konzentriert und bewusst ausgeführt werden.  Stupides Bewegungs-Wiederholen oder schlimmer noch, flüchten in emotionale Muster, halte ich für wenig zielführend.
Ich selbst habe nie länger als eine Stunde pro Tag Singen geübt. Ich habe jedoch viel länger gelernt. Da konnten schon 6 Stunden Lernen zusammenkommen. – In Hochphasen, wenn es viel zu studieren gab. Wichtig war für mich immer, dass ich nicht müde aus einer Übe-Session komme und niemals müde in die nächste Übe-Session gehe. Meine Lehrer haben immer betont, dass ich meinen Weg finden muss. Dafür sollte die Zeit des Studiums gut genutzt werden. Im Studium darf man noch Fehler machen und kann aus ihnen lernen. Im Beruf sollte man wissen, was, wie und wie lange man singen kann, und wieviel Zeit man für die Regeneration benötigt.
Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich meinen Professor bitten, mir genau zu erklären, wie er das mit sechs Stunden üben versteht und auf welchen persönlichen Erfahrungen diese Zeitangabe basiert.
Die Frage der Stimmmüdigkeit würde ich beim aktuellen Auftreten durch einen Phoniater abklären lassen.

Herzliche Grüße

Petra Lang