Singen - Lehren       Singing - Teaching


Liebe Petra,

mein Lehrer erklärt mir sehr genau die Anatomie und verlangt auch von mir, dass ich mir beim Singen immer ganz exakt die Abläufe vorstelle. Ich schaffe es nicht, das immer so umzusetzen. Was mache ich falsch? Wie kann ich besser singen?

Danke!

Katharina

 

 

Liebe Katharina,

zur Beantwortung dieser Fragen muss ich ein wenig weiter ausholen.

Grundsätzlich begrüße ich die Einbindung der Erkenntnisse über Anatomie und Physiologie in die Lehre des Gesanges. Die Suche nach dem Wissen über die Vorgänge vor und während des Singens geht weit zurück und fand z.B. in Manuel Garcia im 19.Jahrhundert einen ersten Vorreiter mit dem Einsatz des Kehlkopfspiegels. Bis zum heutigen Tag forschen die Wissenschaftler unermüdlich weiter, um letzte Geheimnisse des Singens zu lüften. Wir können Abläufe beim Singen erklären, wissen, welcher Muskel was „macht“ und wie wir den Stimm-Klang  durch Veränderung von am Singen beteiligten Resonanz-Räumen verändern können. Wir wissen von der Obertonstruktur, von Sängerformanten, haben Computerprogramme zur Hand, die den erzeugten Klang sichtbar machen und die uns helfen können, direkt zu sehen wie sich der Stimm-Klang verändern lässt wenn man das Instrument verändert. Die Liste an Forschungsergebnissen, deren praktische Anwendung und Auswertung ließe sich noch lange fortsetzen.

Ich möchte diese Erkenntnisse nicht missen. Können sie dem Lehrer helfen, seine Tool-Palette zu erweitern und ermöglichen ihm, im Unterricht individuell auf die  Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers einzugehen.

Das Kleinkind lernt durch Ausprobieren und Wiederholungen seinen Körper individuell einzusetzen und entwickelt so über die Jahre auch mit den gemachten Erfahrungen seine eigene Körpersprache. Diese wird sich bis zum Lebensende verändern und stabilisieren – ohne dass wir über jede Bewegung eines Fingers nachdenken würden. Beim Singen ist es ähnlich.

Es erfordert meiner Meinung nach den gesamten Menschen. Es laufen hochkomplexe Abläufe ab, die koordiniert werden müssen und die im Endeffekt quasi wie von selbst stattfinden. Man sagt oft, dass man Instinkt für das Singen benötigt. Wenn man die Fähigkeit des Loslassens und Zulassens so definiert, dann ist das vielleicht ein Teil der Wahrheit. Für mich kommen das Wissen, wie ich als Sänger/in individuell meine Resonanz-Räume am besten ausnutze, die Umsetzung und Anwendung dieses Wissens im praktischen Tun herstelle und durch richtige Wiederholungen „übe“, bis diese Bewegungen so im Körper manifestiert sind, dass sie gewissermaßen „wie von selbst“ stattfinden.

All dies macht noch keinen Sänger aus mir. Wenn ich die rein technische Tonherstellung ausführen kann, die einen schönen und ausdruckvollen Klang ermöglicht, kommen noch Aussagekraft, Darstellung, Musikalität, Aussehen, Gesundheit, Energie und vieles mehr hinzu.

Mein alter Violin-Methodik-Lehrer hat mir zu Beginn des Studiums ein anatomisches Lehrbuch in die Hand gegeben und gesagt, dass es ihm nicht darauf ankommt, dass ich ihm alle Muskeln „herunterbeten“ kann. Ich müsse aber wissen, welche Muskeln wo liegen und wie sie interagieren. Dies müsse ich auf den Schüler übertragen können und müsse erkennen, wo geigerische Probleme ihren Ursprung in einer nicht optimalen Koordination oder einer Blockade haben.

Während meines eigenen Gesangsstudiums hat mich der wirklich hervorragende Gesangs-Methodik-Unterricht  oder besser gesagt, die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem “Wie-Singen“ beim Singen blockiert und ich brauchte einige Zeit, bis ich dem Rat meiner Haupt-Fach-Lehrerin folgen konnte, doch das Wissen über die Physiologie des Singens beim Singen auszublenden.

Beim eigenen Unterrichten habe ich dann über viele Jahre versucht, eben dieses etwas kopflastige Herangehen zu vermeiden und den Rat suchenden Sänger sein Problem ohne Fokus auf das Problem körperlich und nicht intellektuell lösen zu lassen. Über die Jahre kamen auch Sänger, die unterrichteten oder die Gesangslehrer werden wollten. In diesen Stunden habe ich viel mehr erklärt. Diese Vorgehensweise führte nicht immer zu einem positiven Ergebnis. Die Sänger, die schon singen konnten, profitierten; diejenigen, die noch nicht  so weit waren, brachte dies oft mehr in den Kopf und es war schwerer, sie wieder in den Körper zurück zu holen.

Mein Fazit aus diesen Erfahrungen ist, dass sich nichts verallgemeinern lässt. Es kommt immer auf die jeweilige Lehrer-Schüler-Konstellation an. Als Lehrer reagiere ich auf den Entwicklungsstand des  Schülers. Grundsätzlich würde ich empfehlen, erst sängerisch etwas gefunden und wiederholbar abrufbar herstellen zu können, bevor ich mich mit der genauen Analyse der Vorgänge beschäftigen würde. Dennoch kann ein Anatomie-Basiswissen für jeden Sänger hilfreich sein.

So gesehen sollte das Studium der Gesangs-Pädagogik gesundes eigenes Singen voraussetzen.

 

Zurück zu Ihrer Frage: Vielleicht könnte es Ihnen helfen, da Sie ja schon über großes Stimm-Physiologisches-Wissen verfügen, zu versuchen, dieses Wissen, quasi von der Meta-Ebene aus zu betrachten und beim aktiven Singen zu versuchen, einfach wieder auf Ihren Körper und auf Ihre Seele zu vertrauen und Geübtes zu zulassen.

Eine Fokus-Verlagerung können Sie durch Bewegungen, die jetzt erst einmal nichts mit dem technischen Singen und der inhaltlichen Verarbeitung des Stückes zu tun haben, erreichen.

Sie könnten beim Spazierengehen den Text in Gedanken rezitieren. Sie können den Text sprechen und wenn Sie dies muskulär verinnerlicht haben, eine Bewegung hinzufügen. Ich habe immer das Fensterputzen, Wäsche bügeln oder Bücherregale aufräumen damit  kombiniert. Wenn ich viel zu lernen hatte, war meine Wohnung immer besonders gut aufgeräumt.

 

Vielleicht könnten Sie diese Frage auch mit Ihrem Lehrer direkt besprechen. Er kennt Sie über Jahre, wird Ihnen seine Vorgehensweise darstellen können und so könnten Sie gemeinsam versuchen, eine Antwort zu finden.

 

Wir Sänger singen und wir tun dies eigenständig. Der Lehrer-Coach sollte ein Begleiter und Ratgeber sein, der uns begehbare Wege zeigt. Wir müssen diese Wege jedoch selbst gehen und oft können nur wir selbst den richtigen Weg finden.

 

Herzlichst

 

Ihre


Petra Lang