Sehr geehrte Frau Lang,
wie schätzen Sie eine Gesangsausbildung im Bereich neue Musik und die Aussage "Neue Musik braucht keine Alte Musik" ein?
S.T. *
Sehr geehrte Frau S.,
dieser Slogan verspricht Aufmerksamkeit und beeindruckt durch Praxis-Ferne.
In der Musikausbildung sollte man, wie in allen anderen Disziplinen, erst einmal die Grundlagen gelernt haben, bevor man sich an zeitgenössische Musik wagen kann .
Würden Sie sich einer Schönheitsoperation bei einem Operateur unterziehen, der kein ordentliches Medizinstudium absolviert hat, der die für den Notfall wichtigen notwendigen medizinischen Grundlagen nicht gelernt hat?
Ein Musikstudium mit Ausrichtung „Neue Musik“ kann nur eine Zusatzausbildung für hochbegabte, fortgeschrittene Musiker darstellen.
Beim Sänger ist es noch schwieriger. Die zeitgenössischen Komponisten schreiben oft Musik, ohne auf die Stimme Rücksicht zu nehmen. Da werden häufig Extrem-Lagen gefordert, die einem natürlichen Stimmgebrauch entgegenstehen.
„Studium der zeitgenössischen Musik, mit ihren ungewohnten Sprüngen und oft mit Effekten, die nicht zum normalen Spektrum der menschlichen Klanggebung gehören, setzt erstens eine absolut felsenfeste Gesangstechnik und zweitens eine außergewöhnliche musikalische Intelligenz voraus. Erst nachdem eine zuverlässige technische Basis vorhanden ist, kann der Gesangstudierende anfangen, sich ein Repertoire anzueignen. Auswahl eines zum Gesangsstudierenden passenden Repertoires muss auf den vorhandenen gesanglichen und musikalischen Kompetenzen basieren, damit das Instrument Stimme nicht gefährdet wird.“ Prof. Marilyn Schmiege, Präsidentin BDG, Bundesverband Deutscher Gesangpädagogen
Das Singen von „neuer Musik“ ist nur auf der Grundlage einer gesunden, stabilen Gesangs-Technik ohne Schädigung der Stimme möglich.
1. Die gesangliche Ausbildung zielt erstens auf die Etablierung einer zuverlässigen Technik (Atemführung, Tonproduktion, Optimierung der Klangqualität und Tragfähigkeit). Eine gute Technik ist das sine qua non für jeden Sänger, in welchem Genre auch immer. 2. Man bildet eine Stimme nach den vorhandenen stimmlichen, körperlichen, intellektuellen und geistigen Qualitäten des Gesangstudierenden aus.“ Prof. Marilyn Schmiege
„In der Ausbildung einer jungen Hochleistungsstimme kommen einige Faktoren pädagogischer Natur zusammen: neben der musikalischen und musischen Bildung ist hier natürlich die körperliche und geistige Schulung zu nennen. Vor allen Dinge jedoch ist der Gesangsunterricht der kardinale Faktor. In diesem ist der Aufbau der Stimme, also die Stimmerziehung auf Kenntnis einer physiologischen Basis, grundlegend und unabdingbar. Diese Art von Stimmerziehung ist absolut frei jeder Stilistik und lediglich der Optimierung der Klangbildung im Hochleistungssinne unterlegen.“
Prof. Thomas Heyer
Es stellt sich die Frage, wo ein „Neue Musik Sänger“ dann in unserer Zeit engagiert wird und wie er sein Geld verdienen kann. Die Auftrittsmöglichkeiten in diesem Genre sind rar und die Verdienstmöglichkeiten eher bescheiden.
Welchen Sinn macht dann eine kostenintensive Gesangs-Ausbildung mit dem Schwerpunkt „zeitgenössische Musik“ und wer bezahlt sie?
Herzliche Grüße
Petra Lang
(Sommer 2020)
*Name geändert